In der Sucht liegen Himmel und Hölle nah beieinander.
Wer sich als “süchtig” nach einer TV-Serie, einem Videospiel oder einer Schokoladensorte bezeichnet, betont damit seine Wertschätzung für die Sache. Sie ist so großartig und verführerisch, dass man gar nicht die Finger davon lassen kann.
Ein Hauch vom Himmel.
Auf der anderen Seite gehören die Schicksale von echten Süchtigen zu den traurigsten überhaupt. Ob es um Heroinabhängige geht, Alkoholiker, Raucher oder Zocker am Geldspielautomaten – Sie stecken in einer Kategorie mit Kranken, Gescheiterten und Kriminellen.
Ein Hauch der Hölle.
Die Sucht in ihren Extremformen ist ein so deprimierendes Thema, dass man meist gar nicht daran denken will. Es gehört in die Welt der Behörden, Justiz und Beratungsstellen, der Medizin und der Psychiatrie.
Es ist weit weg von unserem Alltag, und da soll es auch bleiben.

Unsere Distanz zu dieser Welt ist tröstlich, aber wir stellen sie uns gerne größer vor, als sie in Wirklichkeit ist.
Denn Sucht ist heute überall.
Selbst wenn wir mal annehmen, dass es nur eine Redensart ist, eine Leidenschaft für Serien, Spiele oder Schokolade als Sucht zu bezeichnen, sind wir alle schon mit Suchtverhalten in Berührung gekommen. Wenn nicht bei uns selbst, dann bei jemandem im Bekanntenkreis.
Man muss psychologisch nicht allzu tief schürfen, um zu erkennen, dass wir den archetypischen Junkie gerade deshalb verachten und verbannen, weil er etwas verkörpert, das wir in uns selbst bekämpfen: Schwäche, Trägheit, Versuchung, Gier, Maßlosigkeit.
Oder mit einem Wort: Selbstsucht.
Der Süchtige ist Sklave egoistischer Bedürfnisse. Und wir alle kommen gelegentlich in Versuchung, uns von egoistischen Bedürfnissen leiten zu lassen und dabei die Welt und die Menschen um uns herum zu vergessen.
Gleichzeitig wissen wir, dass dies gefährlich ist. Ein Leben nur nach Lust und Impuls macht nicht glücklich. Es lässt die Seele verarmen und verursacht Ärger. Das sieht man am Schicksal des Junkies.
Doch was ist die Alternative? Wofür sollen wir leben, wenn nicht für Lust und Impuls?
Zwischen Selbstsucht und Selbstüberwindung
Die Sucht führt uns einen Grundkonflikt der menschlichen Existenz vor Augen. Sie zeigt die Abgründe, in die wir abrutschen können, aber lässt damit auch den höheren Weg sichtbar werden, der sich uns darbietet.
Ich meine den Konflikt zwischen den Leidenschaften des Ego und der Selbstüberwindung im Dienst höherer Ziele.
Solange wir dem Diktat unserer Bedürfnisse und Impulse verhaftet bleiben, sind wir nur intelligente Tiere. So ein Leben kann nicht befriedigend sein, weil das Potential zu Höherem in uns steckt und wir es spüren, wenn dieses Potential verkümmert.
Wenn wir uns aber – mehr oder weniger – von unseren animalisch-egoistischen Antrieben emanzipieren, dann sind unserem Wachstum und unseren Möglichkeiten kaum Grenzen gesetzt.
Wir können unser Leben lang im Staub hocken oder uns aufschwingen, den Himmel zu berühren. Das sind die Pole, zwischen denen sich unsere Existenz abspielt.
Von den Jahrtausende alten Mythen, die uns überliefert sind, bis zu den Hollywood-Abenteuern von heute haben Menschen diese Grundtatsache des Lebens in unzähligen Variationen abgebildet und aufgeschlüsselt – in Form der sogenannten Heldenreise.
Die Heldenreise ist ein erzählerisches Muster, das davon handelt, wie ein Mensch beginnt, einem höheren Zweck zu dienen, und dadurch über sich hinauswächst.
Dies ist auch der Schlüssel zur Überwindung der Sucht. Wir brauchen eine Aufgabe, an die wir glauben und die von uns verlangt, dass wir alles geben.
From Zero to Hero – die Heldenreise
Zu Beginn lebt der Held – der auch eine Heldin sein kann – ein Leben der Routine und bleibt hinter seinen Möglichkeiten zurück.
Der moderne Held ist oft sogar ausdrücklich beschädigt oder gescheitert. Er hat ein Alkoholproblem, führt eine kaputte Ehe, ist einsam oder arm, hat ein dunkles Geheimnis oder läuft vor Erinnerungen davon, die ihn plagen.
Plötzlich erklingt inmitten der Routinen des Alltags der Ruf des Abenteuers. Etwas Unerwartetes geschieht, das ihn zum Handeln herausfordert.
Zunächst zögert er, meistens aus Angst, Bequemlichkeit oder Zynismus. Schließlich aber entscheidet er sich, dem Ruf zu folgen. Das bedeutet, seine vertraute Welt zu verlassen und sich dem Unbekannten zu stellen.
Nicht immer, aber oft bildet schon das anfängliche Zögern des Helden den oben genannten Konflikt zwischen Egoismus und höheren Zwecken ab. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn er erfährt, dass jemand Hilfe braucht, aber zögert, weil das Helfen riskant oder mühsam wäre.
Später jedenfalls, auf dem Höhepunkt des Abenteuers, rückt ein solcher Konflikt in den Mittelpunkt. Oft riskiert der Held sein Leben, um zu retten, zu helfen oder ein Unrecht aus der Welt zu schaffen.
Er muss seine Selbstbezogenheit überwinden, um die Herausforderungen des Abenteuers zu meistern – seine Arroganz, seine Angst, seine Bequemlichkeit, seine Eifersucht, seinen Zorn, seine Gier … etc.
Er lernt Bescheidenheit und erkennt, dass es Dinge gibt, die größer und wichtiger sind als er selbst.
Diese Selbstüberwindung ist entscheidender Bestandteil der Heldentat. Sie ist der Höhepunkt einer Entwicklung, die mit dem Ruf des Abenteuers begann und aus dem Helden einen anderen Menschen gemacht hat.

Als der Ruf des Abenteuers ertönte, mögen seine Motive noch eigennützig gewesen sein – es ging ihm zum Beispiel um Ruhm, Reichtum, Rache oder Lust.
Durch die Herausforderungen des Abenteuers aber hat er gelernt und die Kraft entwickelt, über seine Eigeninteressen hinauszublicken, während sich sein Glaube an den Wert des höheren Zwecks festigte.
Dabei musste er seinen Schwächen und Ängsten ins Auge sehen, ungeahnte Potentiale in sich freilegen, neue Fähigkeiten kultivieren und die alte, schwache, engstirnige, selbstsüchtige Version seiner selbst sterben lassen.
Größe durch Demut
Hier stoßen wir auf eine Paradoxie.
Der Held verzichtet auf seine eigennützigen Interessen, erhält aber einen Lohn für die Heldentat. Er findet den Schatz, bringt ihn nach Hause und wird dafür gefeiert und geehrt.
Er verzichtet auf alles und gewinnt dadurch alles. Das ist die Paradoxie des guten Lebens.
Wir wollen es uns gut gehen lassen, soziale Anerkennung finden, zufrieden sein. Das sind Ziele, die wir im eigenen Interesse verfolgen. Doch um sie zu erreichen, müssen wir Ziele verfolgen, die außerhalb unserer selbst liegen.
Wir müssen Ziele verfolgen, die größer und bedeutungsvoller sind als unser Eigeninteresse.
Zugespitzt: Um persönlichen Erfolg zu haben, müssen wir aufhören, nach persönlichem Erfolg zu streben.
Wir sind alle Teil eines größeren Ganzen, und um unsere Potentiale zu entfalten, müssen wir unsere individuelle Rolle in diesem größeren Ganzen finden und annehmen.
Das ist die Lektion der Heldenreise.
Immer wieder wird diese Lektion in Kunst und Unterhaltung durchexerziert, und immer wieder lauschen wir gebannt, wenn wir einen Roman lesen oder ins Kino gehen.
Warum?
Weil es erhebend ist. Weil es eine tiefe Wahrheit unserer Existenz in anschauliche Bilder gießt und uns damit zeigt, was, wer und wo wir sind.
Wir neigen von Natur aus zur Selbstsucht. Sie ist unser ständiger Begleiter, zumindest in Form von Versuchungen. Das ist unvermeidlich.
Doch wenn wir uns ihr hingeben, vergrößert sich unser Leiden am Leben, weil es dann sinnlos ist. Selbstsüchtige Lustbefriedigung ist immer unvollkommen und vergänglich. Wir leben und sterben unausgefüllt in Bedeutungslosigkeit.
Wenn wir dagegen die Selbstsucht überwinden und einen Weg finden, unserer Welt auf bedeutungsvolle Weise zu dienen, können wir aufblühen, in neue Dimensionen des Daseins vordringen und übermenschliche Stärke erlangen.
Die Sucht bietet einen Ausgangspunkt, um diese Reise zu beginnen.
Die Sucht als Ersatz für das Leben
Anfang der 1980er Jahre führte der Psychologe Bruce Alexander einen Tierversuch mit Ratten durch, von dem jeder gehört haben sollte, der verstehen will, was Sucht ist.
Es war bekannt, dass man Ratten morphiumsüchtig machen konnte, so dass sie sich regelmäßig aus einem Behälter mit einer morphiumhaltigen Flüssigkeit bedienten.
Doch Laborratten lebten isoliert in kleinen Käfigen. Kein Wunder, dass sie die Drogen unter diesen Bedingungen dankbar annahmen. Wer würde das nicht? Was konnten solche Studien also über Sucht im Allgemeinen aussagen?
Also machten Alexander und Mitarbeiter die Gegenprobe.
Eine Gruppe morphiumsüchtiger Ratten blieb wie gewohnt in den öden Einzelkäfigen. Eine andere Gruppe kam zusammen in ein geräumiges Gehege mit Spiel- und Klettergelegenheiten.
Das Ergebnis war wie erwartet. Die Ratten im artgerechten Gehege konsumierten weit weniger Morphium als die in den Käfigen, obwohl zu Beginn alle gleichermaßen süchtig waren.
Die Sucht entpuppte sich als Reaktion auf das Leben unter nicht artgerechten Bedingungen.
Und zu den artgerechten Lebensbedingungen für Menschen gehört Sinn.
In seinem Buch The Globalization of Addiction (“Die Globalisierung der Sucht”) von 2010 knüpft Alexander an den Kerngedanken des Ratten-Experiments an: Sucht ist ein Ersatz für etwas Wichtiges, das fehlt.
Was ihm zufolge der riesigen und wachsenden Zahl der Süchtigen fehlt, ist “psychosoziale Integration”. Die oben beschriebene Doppelnatur des Menschen als egoistisches Wesen, das zugleich nach Höherem strebt, ist in diesem Konzept leicht wiederzuerkennen. Ich übersetze:
“Psychosoziale Integration” ist eine tiefgreifende Interdependenz zwischen Individuum und Gesellschaft, die normalerweise im Verlauf eines Lebens wächst und sich entwickelt. Psychosoziale Integration versöhnt die lebenswichtigen Bedürfnisse der Menschen nach sozialer Zugehörigkeit mit ihren ebenso lebenswichtigen Bedürfnissen nach individueller Autonomie und persönlichem Erfolg. Psychosoziale Integration ist ebenso ein inneres Erleben von Identität und Sinn wie ein Bündel von Beziehungen zur Außenwelt. Ein dauerhaftes Fehlen von psychosozialer Integration, wie es in diesem Buch als “Entwurzelung” (“dislocation”) bezeichnet wird, ist auf individueller Ebene schmerzhaft und auf sozialer Ebene zerstörerisch.
Süchtige haben ihren Platz in der umfassenderen Welt verloren – oder nie gefunden. Sie sind nicht ausreichend tief in Beziehungen und kulturelle Sinnstrukturen eingebettet, und als Folge davon empfinden sie das eigene Leben als (relativ) bedeutungslos.

Das äußert sich in weit verbreiteten Symptomen, unter denen Süchtige besonders leiden: innere Leere, Langeweile, Nervosität, Ängste, Scham, Depressivität und das impulsive Greifen nach schnell verfügbaren Befriedigungen und Ablenkungen.
Alexander resümiert:
Sucht ist weder eine Krankheit noch ein moralisches Versagen. Sie ist ein eng fokussierter Lebensstil, der als schwächlicher Ersatz für Menschen funktioniert, denen es verzweifelt an psychosozialer Integration fehlt.
Diese Auffassung findet auch neurowissenschaftliche Bestätigung. Alle Süchte beruhen nämlich auf einer Stimulation des mit Dopamin angetriebenen Motivationssystems unseres Gehirns.
Das Dopamin motiviert uns, sinnvollen Aktivitäten nachzugehen und Ziele anzustreben, indem es dafür sorgt, dass wir dies als befriedigend erleben.
Auch das Suchtverhalten, sei es Rauchen, Trinken, Shopping oder sonst etwas, löst einen Dopaminschub aus. Es hat sich als lohnendes Ziel ins Gehirn eingeschrieben, weil es in der Vergangenheit als befriedigend erlebt wurde. Diese Verknüpfung hat sich seither mit jeder Wiederholung verstärkt.
Die Sucht ersetzt also die Motivation und Befriedigung, die normalerweise aus sinnvollen Aufgaben und Zielen entspringen, durch ein immer gleiches Verhaltensmuster, das wir wieder und wieder durchlaufen.
Die Sucht simuliert auf der Ebene des Empfindens das Streben nach Höherem.
Deshalb ist sie ein Fenster, durch das wir direkt auf zentrale Aspekte unserer Menschlichkeit blicken.
Sie zeigt, wie sehr wir einander brauchen und wie sehr wir es brauchen, gebraucht zu werden.
Zugleich zeigt ihre weite Verbreitung, wie schwierig es heutzutage ist, einen Platz auf der Welt zu finden und einzunehmen, der unserem Leben eine feste und dichte Sinnstruktur bietet.
Wir leben in dieser Hinsicht alle am Abgrund, mehr oder weniger.
Aber genau deshalb kann die Sucht auch ein wertvoller Ausgangspunkt sein, um sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen und über sich hinauszuwachsen.
Wer die Sucht überwinden will, hat den Ruf des Abenteuers gehört
Um auf die Heldenreise zu gehen, also aus dem gewohnten Trott auszubrechen, etwas zu riskieren und sich dem Unbekannten zu stellen, braucht man Mut – aber mit Mut allein ist es nicht getan.
Man muss auch wissen, wie man es überhaupt anstellt. In die Welt des Unbekannten und des Abenteuers kann man nicht einfach mit dem Bus fahren.
Den Zugang zu finden ist etwas schwieriger. In Mythen oder Abenteuerfilmen muss man dazu zum Beispiel einen Zauberspruch kennen, eine Geheimtür finden oder ein Ritual durchführen, oder man muss wissen, wie man mit einem Torwächter oder Mentor in Kontakt treten kann, der einem hilft.
Die Frage des Wie ist umso schwieriger, da es für jede Person unterschiedlich ist, was ein fruchtbares Abenteuer wäre.
Deshalb ist es auch riskant, einen Ruf des Abenteuers zurückzuweisen. Dieser ist eine Chance, zu einer besseren Version seiner selbst zu werden— und niemand weiß, ob oder wann sich noch einmal eine solche Gelegenheit bietet.
Die Sucht ist eine diese Chancen, in die Welt des Unbekannten aufzubrechen und über sich hinauszuwachsen. Der Wunsch, sie zu überwinden, ist der Ruf des Abenteuers.
Der höhere Zweck, der Dienst an der Gemeinschaft, besteht zunächst einmal darin, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Das ist die Voraussetzung für alles Weitere.
Wer sich gehen lässt, wird für andere zur Belastung, vielleicht sogar zur Gefahr. Wer dagegen gut für sich sorgt, erarbeitet sich dadurch Ressourcen aller Art, von denen er anderen schließlich etwas ab- und zurückgeben kann.
Daher ist es nicht selbstsüchtig, gut für sich zu sorgen, und steht nicht im Widerspruch zur Orientierung an höheren Zwecken – im Gegenteil.
Höhere Zwecke, die darüber hinausgehen, eröffnen sich dann auf der Reise – mythologisch gesprochen: sobald man sich als ihrer würdig erweist.
In der Sucht beziehungsweise ihrer Überwindung sind die ersten Schritte einer Heldenreise vorgezeichnet:
- Sich den eigenen Dämonen stellen: in die Vergangenheit und ins eigene Herz schauen und dem ins Auge sehen, was man dort findet
- Seine Berufung finden: ein klares Bild davon gewinnen, wie das Leben aussehen könnte, wenn man sein Bestes gäbe
- Aufbrechen: konkrete Pläne schmieden, um dieses Leben Wirklichkeit werden zu lassen, und jeden Tag einen Teil davon umsetzen
Wer damit anfängt, wird bald den ersten Ungeheuern und Kobolden, Räubern und Betrügern begegnen, die ihn angreifen, aufhalten und vom Kurs abbringen wollen – in Form von Ängsten, Schwächen und Versuchungen.

Das sind ernstzunehmende Hindernisse, aber dass sie da sind, ist ein gutes Zeichen. Sie zeigen, dass man an der Schwelle zu etwas Neuem steht. Sie sind eine Chance, zu wachsen.
Das ist keine bloße Übung in positivem Denken, sondern eine Grundtatsache des Lebens.
Wir wachsen mit unseren Herausforderungen. Ohne sie gibt es kein Abenteuer, kein Bezwingen des Drachen, keinen Schatz und keine Heimkehr als neuer Mensch.