
Machen Drogen süchtig?
Das ist nicht so selbstverständlich, wie es scheint: Nur eine Minderheit derjenigen, die eine Droge probieren, wird süchtig. Das gilt für harte Drogen wie Heroin, Kokain und Chrystal Meth ebenso wie für Alkohol, Cannabis oder Nikotin.
Solange wir das nicht wissen, neigen wir dazu, allein die Droge verantwortlich zu machen. Wir übersehen die Gründe der Abhängigkeit in der Persönlichkeit und Lebenssituation des Süchtigen. Dies wiederum macht es schwer, die Sucht zu überwinden, denn bekanntlich muss man ein Problem erst einmal verstehen, um es lösen zu können.
Deshalb will dieser Beitrag zum besseren Verständnis der Sucht beitragen. Er gliedert sich in folgende Abschnitte:
- Das Leben zwischen Käfig und Freizeitpark
- Sinn und Zugehörigkeit: Die tieferen Gründe der Sucht
- Dopamin und der Motivationsapparat
- Das Opioidsystem: Liebe und Verbundenheit
- Tunnelblick: nur das eine
- Woher kommt die Leere?
- Aus der Sucht herauswachsen
Zwei wegweisende Studien aus den 1970er und 80er Jahren bringen den Kern der Sucht anschaulich auf den Punkt.
Die erste handelt von US-amerikanischen Soldaten, die aus dem Vietnamkrieg zurückkehrten. Bis zu 20 Prozent von ihnen hatten dort regelmäßig Heroin konsumiert, das zu den Drogen mit dem größten Suchtpotential zählt.
Das Überraschende war, dass sie fast alle den Heroinkonsum nach ihrer Rückkehr in die Heimat wieder aufgaben, ganz ohne Therapie, Ersatzdrogen oder sonstige Medikamente.
Der unermessliche Stress eines als sinnlos empfundenen, chaotischen und brutalen Kriegseinsatzes hatte eine seelische Not erzeugt, die sich mit Heroin lindern ließ. Nach der Rückkehr war dieser Stress nicht mehr gegeben, und mit ihm verschwand auch das Bedürfnis nach Heroin. Die Männer brauchten es nicht mehr und stellten den Konsum ein.1

Die zweite Studie ist ein Tierversuch mit Ratten, der unter dem Stichwort „rat park“ („Rattenpark“) geläufig ist.2
Die Versuchsratten, an denen man damals die Sucht erforschte, wurden meist in kleinen Käfigen gehalten. Die Forschergruppe um den Psychologen Bruce Alexander sah darin ein Problem: Ratten sind hochsozial, verspielt und neugierig. Das isolierte Leben in kleinen Käfigen ist von ihren natürlichen Lebensbedingungen weit entfernt.
Was konnte man also daraus schlussfolgern, dass Ratten unter diesen Bedingungen morphiumsüchtig wurden? Mussten die verarmten Lebensbedingungen der Käfigratten nicht ihre Empfänglichkeit für Sucht künstlich in die Höhe treiben?
In dieser klugen Frage steckt bereits die Antwort. Ja, das war der Fall.
Der Aufbau war recht einfach. Es gab zwei Vergleichsgruppen von Ratten. Die Tiere der ersten Gruppe lebten so, wie es für Laborratten üblich war: allein oder mit wenigen Artgenossen in kargen Käfigen. Für die zweite Gruppe schuf man weitgehend natürliche und freundliche Bedingungen, also ein großes Gehege mit viel Grün, Klettergelegenheiten und Artgenossen beider Geschlechter. Dies war der „Rattenpark“.
Alle Ratten hatten Zugang zu einer Morphiumlösung, die sie nach Belieben aus einem Behälter schlürfen konnten. Als zusätzlicher Anreiz war die Flüssigkeit gesüßt und für Ratten wohlschmeckend.
Das Ergebnis war wie erwartet: Viele der isolierten Käfigratten wurden süchtig und bedienten sich regelmäßig am Morphium. Die glücklicheren Park-Ratten zeigten deutlich weniger Interesse daran.

Das Leben zwischen Käfig und Freizeitpark
Für die meisten von uns ist das Leben ein Mittelding zwischen Käfig und Park – nicht ideal, aber auch nicht völlig freudlos. Allerdings zeigt sich auch bei den Menschen, dass härtere Lebensbedingungen mit einer größeren Wahrscheinlichkeit einhergehen, süchtig zu werden. Mehr dazu lesen Sie unter Warum rauchen Menschen?
Ein wesentlicher Unterschied zwischen Ratten und Menschen ist jedoch, dass für uns dieselbe räumliche und soziale Umgebung sehr reich und sehr karg sein kann – und dass wir mehr oder weniger viele Möglichkeiten haben, unsere Umgebung zu verändern.
Wir nehmen vieles nicht wahr, was wir wahrnehmen könnten. Wir lernen viele Menschen nicht kennen, die wir kennenlernen könnten. Wir machen viele Erfahrungen nicht, die wir machen könnten – und so weiter.
Durch unzählige kleine und größere Weichenstellungen dieser Art entscheiden wir täglich darüber, wie unser Leben aussieht. Ja, es gibt auch äußere Lebensbedingungen, die wir nicht ändern können. Doch zu einem großen Teil bestimmen Sie durch Ihre Einstellung und Ihr Verhalten selbst, in was für einer Welt Sie leben – ob es eher ein Käfig ist oder eher ein belebter Park.
Je mehr unser Leben als Käfig erscheint, desto verführerischer und auswegloser ist die Sucht. Daher müssen wir uns mit unserem Leben, unseren Gewohnheiten und unserer Persönlichkeit auseinandersetzen, um uns von der Abhängigkeit zu emanzipieren und unser Leben mehr als Park denn als Käfig zu gestalten.
Sinn und Zugehörigkeit: Die tieferen Gründe der Sucht
Als „Hungergeister“ bezeichnet Gabor Maté uns Süchtige im Titel seines Bestsellers „In the Realm of Hungry Ghosts“. Das trifft.
Hunger, weil wir unbefriedigte Bedürfnisse in uns tragen, die uns nie zur Ruhe kommen lassen.
Geister, weil das Suchtverhalten ein Kampf gegen eine Leere in uns ist, der diese Leere gleichzeitig verfestigt. Das hält uns davon ab, unser Leben als im Jetzt und Hier verwirklichte Personen zu leben.
Unsere Lebendigkeit hat sich verirrt und in der Sucht festgefahren. Wir streben unermüdlich nach Bedürfnisbefriedigung, doch wir suchen sie an der falschen Stelle. Sucht ist nicht das Leben. Sie ist eine Simulation, die zu Lasten des wirklichen Lebens unsere Energie und Zeit verschlingt.
Wir führen ein Doppelleben. Wir sind nicht das, was wir zu sein scheinen, denn wir halten unsere Sucht nach Möglichkeit verborgen – vielleicht nicht das Rauchen, aber die Sucht und die Gefühle der Angst, Scham und Bedürftigkeit, die ihr zugrunde liegen. Ständig begleitet uns das Gefühl und Wissen, unser Leben nicht im Griff zu haben und immer wieder etwas zu tun, das wir selbst für falsch halten.
Das hat schwerwiegende Folgen für unsere Beziehung zu uns selbst.
Wie sollen wir uns zutrauen, die großen Herausforderungen des Lebens zu meistern, wenn wir noch nicht einmal im Kleinen und Alltäglichen unser eigenes Verhalten unter Kontrolle haben?
Dieser Widerspruch zwischen unserem Wissen und Verhalten untergräbt unsere persönliche Integrität.
Die Brüche in unserer Integrität und unserem Selbstvertrauen wiederum entfremden uns von anderen Menschen, weil Unsicherheit und Angst uns davon abhalten, uns für andere zu öffnen. Diese Entfremdung vergrößert die Leere, die Ängste und den Schmerz, die für die Sucht verantwortlich sind.
Das Suchtverhalten beruhigt – für den Moment. Doch gleichzeitig fügt die Sucht den vorhandenen Ängsten neue hinzu. Der bekannte Teufelskreis: Ich nehme Drogen, weil ich Sorgen und Probleme habe, und mit der Abhängigkeit kommen weitere Sorgen und Probleme hinzu.
Als Süchtige sind wir ständig auf der Flucht. Nie kommen wir dazu, zu sein, was wir sein könnten, wenn wir das Leben mit unserer vollen Kraft und Leidenschaft gestalteten. Wir bleiben in einer Sphäre der Uneigentlichkeit, des „Eigentlich-würde-ich-lieber“, des nicht verwirklichten Lebens, das als Potential in uns steckt.

Hungergeister.
Doch wie kam es dazu, dass wir auf diesen Weg geraten sind?
Es kam dazu, weil uns etwas Wichtiges fehlte und die Sucht diesem Gefühl des Fehlens und der Leere notdürftig entgegenwirkt.
Was fehlt, ist ganz knapp ausgedrückt Sinn und Zugehörigkeit.
Süchte regen zwei Hirnsysteme an, die auch jede als sinnvoll erlebte Aktivität sowie Gefühle der Liebe und Verbundenheit tragen: das Dopamin- und das Opioidsystem.
Dies macht wesentlich die befriedigende Qualität der Suchtmittel aus. Wenn aus vereinzelten Befriedigungserlebnissen eine Abhängigkeit wird, kommt das Problem hinzu, dass sich genau diese Form der Bedürfnisbefriedigung durch die ständige Wiederholung als feste Gewohnheit ins Gehirn einschreibt und schließlich zum Zwangsverhalten wird.
Dopamin und der Motivationsapparat
Der Neurotransmitter Dopamin spielt bei allen Süchten eine zentrale Rolle.
Neurotransmitter sind Botenstoffe, die im Nervensystem für die Kommunikation zwischen Nervenzellen sorgen. Dazu gehören auch die Gehirnzellen. Wenn eine Nervenzelle aktiviert wird, schüttet sie an ihrem Ende (an der „Synapse“) Neurotransmitter aus, die eine kurze Distanz zu angrenzenden Nervenzellen überwinden und diese ebenfalls aktivieren, indem sie an ihren Rezeptoren andocken. Dies sind sozusagen die Empfangsstationen, die jeweils für bestimmte Neurotransmitter geformt sind.
Verschiedene Hirnsysteme verwenden verschiedene Neurotransmitter, um durch die Aktivierung vieler Nervenzellen in bestimmten Mustern Gedanken, Gefühle, Motivationen und Handlungen zu erzeugen.
Dopamin wird manchmal als „Glückshormon“ bezeichnet, doch das ist nur die halbe Wahrheit. Es wirkt nicht nur befriedigend, sondern ist vor allem der zentrale Treibstoff des Motivationssystems.
Die dopamingetriebenen Schaltkreise motivieren unser Handeln, wenn wir eine ersehnte Befriedigung am Horizont sehen, aber noch nicht erlangt haben. Schon dieses Sichten der Befriedigung ist lustvoll, wenn wir uns Chancen zuschreiben, sie auch zu bekommen.3
Dass bereits im Streben und Sehnen Befriedigung steckt, ist vielleicht ein ungewöhnlicher Gedanke. Doch wir kennen es alle aus eigener Erfahrung und Beobachtung. Denken Sie zum Beispiel an sportliche Wettkämpfe, an jemanden, der sich bei der Arbeit ins Zeug legt, oder an Bemühungen um ein Rendezvous.

Alle diese Aktivitäten sind lustvoll, weil sie auf sinnvolle Ziele gerichtet sind: Beim Fußballspiel das nächste Tor, der Sieg und der Aufstieg; bei der Arbeit der Projekterfolg, die Anerkennung oder eine Beförderung; beim Rendezvous ein Sich-Verlieben, eine Beziehung und/oder Sex.
Die Verheißung der Ziele strahlt auf die Aktivitäten aus, die auf diese Ziele gerichtet sind. Dadurch erhalten die Aktivitäten selbst ein Stück Befriedigung. Wir erleben sie als sinnvoll. Sie beleben uns und spannen einen Bogen von der erlebten Gegenwart zu einer verlockenden Zukunft voller attraktiver Möglichkeiten.
Verantwortlich dafür ist unser dopamingetriebener Motivationsapparat oder mit der Bezeichnung von Gabor Maté das „Anreiz-Motivations-System“.4
Der Suchtprozess kommt in Gang, wenn wir eine Droge konsumieren oder ein Verhalten ausprobieren und dies als befriedigend erleben. Sobald wir später daran denken, das Erlebnis zu wiederholen, wird Dopamin ausgeschüttet und wir erhalten eine innere Botschaft: „Ja, das ist gut. Du willst das.“
Das Motivationssystem ist evolutionär sehr alt und in seinen Grundzügen auch bei einfacheren Tieren vorhanden. Es gehört zu den rohen, animalischen Teilen des Gehirns. Dies ist auch der Grund dafür, dass wir oft mit vernünftigen Überlegungen nicht gegen Versuchungen ankommen. Vernünftige Überlegungen stehen auf verlorenem Posten, wenn die rohe Maschinerie dieser basalen Überlebenssysteme die Herrschaft übernimmt.
Während wir uns auf bewusster Ebene vielleicht idiotisch vorkommen, wenn wir wieder zur Zigarette greifen, spielt sich im Untergeschoss etwas anderes ab. Das Motivationssystem sendet in alle Teile des Gehirns unüberhörbar seine Botschaft: „Das ist dein Ziel, das ist das, was du willst, das ist das, was dir Befriedigung bringt, die Antwort auf deine Fragen und die Linderung deiner Not. Greif zu! Jetzt!“
Solche Botschaften sendet es auch in ganz normalen Situationen, etwa beim Sport oder bei der Vorfreude auf ein Date – siehe oben. Im Fall der Sucht werden sie aber besonders mächtig, werden zum Zwangsverhalten, weil wir einen immer gleichen Zirkel von Streben und Befriedigung so oft wiederholt haben. Dadurch hat sich das Gehirn immer mehr darauf spezialisiert, bestimmte Bedürfnisse so und nicht anders zu befriedigen.
Ich spreche hier bewusst allgemein von Süchten statt nur von Zigaretten oder Nikotin, weil alle Süchte trotz ihrer Unterschiede etwas gemeinsam haben. Dies umfasst nicht nur substanzförmige Suchtmittel wie Alkohol und Kokain, sondern auch verhaltensbasierte Süchte wie die Spiel- oder Internetsucht.
Letztere werden manchmal belächelt und als bloßer Mangel an Disziplin abgetan. Richtig ist dabei, dass die Übergänge fließend sind. Ist beispielsweise jemand süchtig, der täglich Sport treibt und dem etwas fehlt, wenn er es nicht kann? Vielleicht ein bisschen, und vielleicht ist das kein Problem, weil es ihm mehr guttut als schadet.
Doch wenn jemand bereits verschuldet ist und alles Geld, das er in die Hand bekommt, in den Spielautomaten wirft, oder aufgrund exzessiver Internetnutzung Job und Freunde verliert, ist das offensichtlich nicht einfach nur großer Spaß an einem Hobby.
Das wohl eindeutigste Kriterium für Sucht ist die Unfähigkeit, mit dem Konsum oder Verhalten aufzuhören, obwohl man es möchte. Psychologisch interessanter ist aber die Tatsache, dass der Süchtige regelmäßig bestimmter äußerer Hilfsmittel bedarf, um seinen Gefühlszustand zu regulieren. Wenn das der Fall ist, kommt es nicht so sehr darauf an, ob der Dopamin-Schub im Gehirn durch eine Zigarette, exzessives Essen, Alkohol oder ein Computerspiel ausgelöst wird.
Die Besonderheit einer Zigarette besteht hier nur darin, dass ihr Nikotin direkt das Dopaminsystem aktiviert. Es bedarf dazu nicht des Umweges über Streben und Vorfreude, obwohl diese dazukommen. Nach der Aufnahme des Rauches über die Lunge gelangt das Nikotin in Sekundenschnelle ins Blut und ins Gehirn, wo es einen Dopaminschub auslöst. Sinn und Befriedigung auf Knopfdruck.
Grundsätzlich ist ein Dopaminrausch nichts Schlechtes. Im Gegenteil! Das Motivationssystem markiert für uns erstrebenswerte Ziele und belohnt uns mit angenehmen Gefühlen, wenn wir sie verfolgen. Passierte das nicht, würde sich alle Aktivität sinnlos anfühlen.
Nur sind eben Zigaretten, Drogen und Suchtverhalten keine guten Ziele. Sie schaden uns. Gleichzeitig rauben sie anderen möglichen Zielen die Motivationsenergie. Deshalb kehren wir immer wieder zur Sucht zurück, obwohl wir wissen, dass es viel bessere Lebensziele gäbe.
Wir wissen es mit dem Intellekt, mit der Vernunft, aber unser motivationales Untergeschoss weiß es nicht – oder vielleicht besser: glaubt nicht daran.
Es glaubt nicht daran, weil es das erfolgreiche Streben nach diesen besseren Zielen nicht oft genug, nicht intensiv genug oder noch gar nicht erlebt hat.
Genau das müssen wir ändern. Dies beginnt damit, eine konkrete, greifbare und attraktive Vorstellung solcher Ziele zu entwickeln.
Vorstellungsbilder sind in ihrer Macht nicht zu unterschätzen. Ebenso, wie wir unser Leben lang Angst vor etwas haben können, das nur in unserer Vorstellung existiert, können wir auch mit Vorstellungen unser Motivationssystem in Gang setzen und in eine neue, positive Richtung lenken.
Wenn Sie die herkömmliche „Methode Willenskraft“ verwenden, um mit dem Rauchen aufzuhören, stemmen Sie sich gegen Ihr Motivationssystem, das Sie zum Rauchen treiben will. Es verspricht bessere Erfolgschancen, nicht gegen ihr Motivationssystem zu kämpfen, sondern seine Energie für die Verwirklichung Ihres alternativen Lebensentwurfs ohne Zigaretten einzuspannen.
Doch die Formulierung von Zielen dient nicht nur der Motivation, sondern schlicht auch der Planung. Wir erreichen nichts, wenn wir auf nichts zielen. Wir erreichen ebenfalls nichts, wenn wir keine Vorstellung davon haben, wie es sich erreichen ließe – also keinen Plan für die Umsetzung. Wenn wir beides haben, wissen wir, was wir zu tun haben, und unser Leben hat Sinn.
Eine Anleitung für solche Zielsetzung und Planung finden Sie unter „Verantwortung übernehmen“. Hier geht es weiter mit dem zweiten Teil des Duos „Sinn und Zugehörigkeit“.
Das Opioidsystem: Liebe und Verbundenheit
Neben dem Dopamin setzt Nikotin – und setzen andere Suchtmittel – noch weitere Neurotransmitter frei. Beim Nikotin gehört dazu Beta-Endorphin, das wie andere Endorphine schmerzstillend und euphorisierend wirkt.
Was hat das mit Liebe und Gemeinschaft zu tun? Eine Menge. Endorphine sind körpereigene Drogen, die dafür sorgen, dass Liebe und Gemeinschaft mit anderen Menschen wohltuend und befriedigend sind. Die schmerzstillende Wirkung ist nur ein Teilaspekt dieses übergeordneten Zwecks.
Hierzu Gabor Maté:
Endorphine sind die chemischen Katalysatoren für unser Erleben grundlegender Emotionen, die menschliches Leben sowie das Leben von Säugetieren überhaupt erst ermöglichen. Zu ihren wichtigsten Funktionen gehört, eine emotionale Bindung zwischen Mutter und Kind herzustellen.
…
Die Rolle der Endorphine im menschlichen Gefühlshaushalt wurde von einer Studie mit bildgebenden Verfahren veranschaulicht, an der 14 gesunde Frauen teilnahmen. Ihre Gehirnaktivität wurde aufgezeichnet, während sie sich in einem neutralen Gefühlszustand befanden, und dann noch einmal, nachdem sie gebeten wurden, sich an ein trauriges Erlebnis zu erinnern. Zehn von ihnen dachten an den Tod einer geliebten Person, drei an Trennungen von ihren Partnern, eine konzentrierte sich auf einen Streit mit einem engen Freund. Anhand einer Kontrastflüssigkeit zeigte der Scan die Aktivität von Opioid-Rezeptoren in den emotionalen Zentren der Gehirne aller Teilnehmerinnen. Während die Frauen von traurigen Erinnerungen erfüllt waren, zeigten die Opioid-Rezeptoren deutlich weniger Aktivität.
Ich weiß nicht, ob hier Raucherinnen dabei waren, aber wenn ja, hatten sie sicher Lust auf eine Zigarette. Diese hätte eine Ausschüttung von Beta-Endorphinen verursacht, welche die Opioid-Schaltkreise belebt und der Traurigkeit die Spitze genommen hätten.
Auf der anderen Seite schalten positive Erwartungen das Endorphin-System an. Forscher haben beispielsweise beobachtet, dass die Aktivität der Opioid-Rezeptoren steigt, wenn Menschen das Abklingen eines Schmerzes erwarten. Auch die Verabreichung unwirksamer Medikamente – Substanzen, die keinen direkten physikalischen Effekt haben – aktiviert die Opioid-Rezeptoren und führt so zu einem reduzierten Schmerzempfinden. Dies ist der sogenannte Placebo-Effekt, der weit davon entfernt ist, nur Einbildung zu sein, sondern ein echter physiologischer Vorgang ist. Das Medikament ist unwirksam, doch das Gehirn wird durch die ihm eigenen Schmerzmittel beruhigt, die Endorphine.
…
Eine Sucht nach Opiaten wie Morphium und Heroin entsteht in einem Hirnsystem, welches die mächtigste emotionale Dynamik des menschlichen Daseins reguliert: den Bindungsinstinkt. Liebe.
Es ist das Bedürfnis nach physischer und emotionaler Nähe zu anderen Menschen. Es sichert das Überleben von Säuglingen, indem es eine gegenseitige Verbundenheit zwischen Mutter und Kind herstellt. Das ganze Leben hindurch treibt uns dieses Bedürfnis, nach Beziehungen und Gesellschaft zu streben, erhält Familienbeziehungen und hilft bei der Bildung von Gemeinschaften. Wenn Endorphine an den Opioid-Rezeptoren andocken, aktivieren sie die Chemie von Liebe und Verbundenheit. So tragen sie dazu bei, uns zu den sozialen Wesen zu machen, die wir sind.
Als körpereigene Drogen und Schmerzmittel ermöglichen Endorphine es Säuglingen und Kleinkindern, trotz der vielen kleinen Unfälle, die ihre Erkundung der Welt mit sich bringt, aktiv zu bleiben. Interessant ist dabei, dass der Hirnbereich, in dem wir Schmerz registrieren, der anteriore cinguläre Cortex, auch bei dem Erleben sozialer Zurückweisung aktiv ist.
Mit anderen Worten, wir „fühlen“ physischen und emotionalen Schmerz im selben Teil des Gehirns – und dies wiederum spielt eine wichtige Rolle bei unserer Verbundenheit mit anderen, die für uns wichtig sind. Unter normalen Bedingungen hält uns der emotionale Schmerz des Getrenntseins nahe beieinander, wenn wir diese Nähe am meisten brauchen.5
Haben Sie schon mal den Impuls verspürt, jemanden in den Arm zu nehmen oder seine Hand zu halten, der Schmerzen hatte oder traurig war? Genau darum geht es hier. Wir wissen instinktiv, dass es hilft, weil der Zusammenhang von Trost und Nähe so tief in uns verwurzelt ist.

Menschen sind hochsoziale Wesen. Dies spiegelt sich in Mechanismen des Gehirns wider, die Verbundenheit und Harmonie mit Wohlbefinden belohnen und Isolation mit Schmerz bestrafen.
Während das Dopamin also wesentlich für die eher anregende Wirkung der Zigarette verantwortlich ist, vermitteln die Beta-Endorphine ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit und vertreiben Gefühle der Einsamkeit und Isolation.
Das ist einigermaßen fatal. Zigaretten sind ebensowenig ein sinnvoller Lebensinhalt, wie sie ein Ersatz für menschliche Beziehungen sind. Es fühlt sich aber eben so an. Und während wir uns dieser Simulation von Sinn und Zugehörigkeit hingeben, halten wir uns davon ab, die jeweils echte Version zu suchen.
Tunnelblick: nur das eine
Die Erscheinungsformen von Sinn und Zugehörigkeit sind unendlich vielfältig. Sie ergeben zusammen das, was man unter einem erfüllten Leben versteht.
Die Befriedigung der Droge ist dagegen stereotyp. Sie ist immer gleich, sagt uns nichts Neues und bringt uns nicht weiter. Die Sucht führt uns in einen mechanischen Kreislauf: befriedigendes Erlebnis → Streben nach Wiederholung → befriedigendes Erlebnis → Streben nach Wiederholung → befriedigendes Erlebnis → Streben nach Wiederholung und so weiter.
Dies führt zum dritten Hauptaspekt der Abhängigkeit auf der Ebene des Gehirns. Denn wenn es auch plausibel ist, dass die oben beschriebenen Empfindungen von Sinn und Liebe sich gut anfühlen, ist damit noch nicht erklärt, wie daraus ein Zwangsverhalten wird.
Dazu gehört zunächst einmal, dass der Betroffene empfänglich für die Wirkung der Droge oder für das Suchtverhalten ist, wenn er das erste Mal damit in Kontakt kommt. Er befindet sich mehr oder weniger in einer seelischen Notlage, auf welche das Suchtverhalten die perfekte Antwort zu bieten scheint. (Dazu mehr im folgenden Abschnitt.) Er nimmt die Droge also ein zweites, ein drittes, ein viertes Mal.
So kommt allmählich der Suchtmotor in Gang. Jede Wiederholung des Zirkels stärkt nun die Hirnstrukturen, die durch das Suchtverhalten aktiviert werden. Je mehr Wiederholungen wir hinter uns haben, desto mehr wird das ständige Durchlaufen des Zirkels zu einem festen Teil unserer Persönlichkeit, und desto mehr drängt sich genau diese Befriedigung als nächstliegende Lösung auf, wenn wir uns nach Sinn und Zugehörigkeit sehnen.
Was der Sucht somit zugrunde liegt, ist der an sich normale Mechanismus des Lernens, der hier aber außer Kontrolle geraten ist. Mit den Worten von Marc Lewis:
Das Gehirn wäre nutzlos, wenn es nicht höchst flexibel auf Ereignisse in der Welt reagieren würde. Doch da wir auch Stabilität in unseren Wahrnehmungen, Begriffen und Handlungen brauchen, um durch den Tag zu kommen und für die Zukunft zu planen, schlagen sich Hirnveränderungen fast immer in Gewohnheiten nieder. Und wenn Gewohnheiten einmal geformt sind – sogar kleine –, bleiben sie erhalten, manchmal für den Rest unseres Lebens.
…
Neue Nervenbahnen und die damit korrespondierenden Muster des Denkens und Verhaltens beginnen tastend und schwankend, doch nachdem sie wiederholt aktiviert wurden, verwurzeln sich die ersten zarten Verbindungen tiefer, werden konkreter und sind schließlich wie in Stein gemeißelt – oder wenigstens in Fleisch. Daher neigen Gehirnveränderungen ganz natürlich dazu, sich zu stabilisieren und zu kristallisieren. Und wenn sich neue Veränderungen ergeben, restabilisieren sie sich. Mit einem Gehirn, dass sich unberechenbar mit jedem zufälligen Ereignis veränderte, könnten wir nicht viel anfangen. Veränderung und Stabilisierung gehen also Hand in Hand. Mit einem Wort: Das ist Lernen. Es ist außerdem ein … wesentlicher Punkt, wenn es darum geht, Sucht zu verstehen.6
Das Gehirn eines Süchtigen ist überspezialisiert. Es kann nicht nur diese Art der Befriedigung suchen, sondern es kann schließlich in bestimmten Gefühlslagen nur noch diese Befriedigung suchen. Sie hat sich immer tiefer als Standard eingegraben und dabei denkbare Alternativen verdrängt.
Daher ist eine körperliche Abhängigkeit zugleich psychisch, eine psychische zugleich körperlich: Mit ihr korrespondieren Gehirnstrukturen, die sich durch das Suchtverhalten gebildet haben. Um die Sucht zu überwinden, müssen wir sie wieder umformen.

Dazu brauchen wir zum einen bessere Ziele als alternativen Inhalt für das Motivationssystem wie oben beschrieben. Zum zweiten brauchen wir einen Perspektivwechsel, der uns klar vor Augen führt, dass wir dem Ruf der Sucht nicht folgen müssen, auch wenn wir das Gefühl haben, wir müssten.
Um die besseren Zielsetzungen geht es unter „Verantwortung übernehmen“, Tipps zur Emanzipation von den quälenden Gefühlen und Gedanken des Entzugs finden Sie unter „Entzugserscheinungen lindern“.
Woher kommt die Leere?
Ich habe eingangs erwähnt, dass längst nicht alle Menschen süchtig werden, die mit Drogen in Kontakt kommen. Das gleiche gilt für verhaltensbasierte Süchte. Die meisten können mit Freude essen und mit Vergnügen spielen ohne eine Ess- oder Spielsucht zu entwickeln. Woran liegt es also, dass manche der Sucht verfallen?
Es gibt verschiedene Erklärungsansätze, die aber ebenso wie die Erscheinungsbilder der Sucht einen gemeinsamen Nenner haben.
Der Psychologe Bruce Alexander hat den Kerngedanken seines oben erwähnten Rattenpark-Experiments später weiter ausgearbeitet. In seinem Buch „The Globalization of Addiction„7 vertritt er mit einer Fülle von Belegen den Standpunkt, dass Süchte sich in der modernen Welt immer mehr ausbreiten, weil Menschen durch die rapide soziale Entwicklung und die moderne Lebensart aus traditionellen Strukturen und Gemeinschaften herausgerissen werden. Das bedeutet eine gewisse Vereinzelung und den Verlust des kulturellen Rahmens, der ein Menschenleben früher in ein relativ stabiles Netz von Beziehungen einbettete und ihm damit Sinn stiftete.
Das passt zur Diagnose, dass Süchte ein notdürftiger Ersatz für Sinn und Zugehörigkeit sind. Es erklärt aber zunächst nicht, warum nur manche Menschen süchtig werden. Wir leben ja alle in derselben relativ entwurzelten, schnellen und individualisierten Welt.
Hier sollten wir aber im Blick behalten, dass Suchtverhalten vielfältig und in verschiedenen Formen sozial akzeptiert ist. Das Paradebeispiel dafür ist der Workoholic, der das Arbeiten nicht lassen kann und darüber seine Beziehungen, seine Gesundheit und sein Lebensglück vernachlässigt. Er bekommt im Gegensatz zum Drogenabhängigen soziale Anerkennung für sein Suchtverhalten, das als Fleiß erscheint und sich in beruflichem Erfolg äußert.
Auch das Essen von Süßigkeiten oder Fast Food, das Fischen nach Likes in sozialen Netzwerken oder intensiver Medienkonsum (der sprichwörtliche „Nachrichtenjunkie“) können Ablenkung und Tröster sein, die man regelmäßig dazu heranzieht, einen sonst schwer erträglichen Gefühlszustand zu regulieren. Und man kann davon abhängig werden, ohne dass es groß auffallen würde.
So ergibt sich ein differenzierteres Bild, zumal wenn man sich vor Augen hält, dass die Übergänge fließend sind.
Dennoch gibt es natürlich individuelle Unterschiede. Diese erklären sich zum Teil aus den Beziehungen, die wir als Kinder zu unseren primären Bezugspersonen hatten.
Das Gefühlsleben eines Kindes ist zunächst wild, energiegeladen und chaotisch. Es braucht Zeit, um sich zu ordnen, und das Kind muss lernen, seine Gefühle zu verstehen, zu kommunizieren und zu regulieren. Dies kann es nur durch die Beziehung zu emotional reifen Erwachsenen, die ihm Sicherheit bieten und mit einem gewissen Einfühlungsvermögen auf seine Bedürfnisse und Gefühle reagieren.
Diese liebevolle Aufmerksamkeit und Fürsorge der Bezugspersonen ist unverzichtbare Nahrung für die Entwicklung der Seele.
Alle Säugetier-Mütter – und auch viele menschliche Väter – geben ihren Säuglingen eine sinnliche Stimulation, die sich langfristig positiv auf deren Gehirnchemie auswirkt. Diese Stimulation ist derart wichtig für die gesunde seelische Entwicklung eines Menschenkindes, dass Babys, die nie auf den Arm genommen werden, schlicht sterben. Sie stressen sich zu Tode. Frühgeborene Säuglinge, die für Wochen oder Monate in Brutkästen leben, zeigen bereits ein schnelleres Wachstum des Gehirns, wenn sie bloß zehn Minuten am Tag gestreichelt werden.8
Die Brüche in den frühkindlichen Beziehungen, die längerfristig zu einem Mangel an Sinn und Zugehörigkeitsgefühl führen, kann man auf den gemeinsamen Nenner emotionaler Nichtverfügbarkeit der Bezugspersonen zurückführen.

Wenn erwachsene Bezugspersonen nicht oder nur eingeschränkt emotional verfügbar sind, kann sich der Gefühlshaushalt des Kindes nicht in dem Maße ordnen und stabilisieren, wie es normal und wünschenswert wäre. Zurück bleiben das Sehnen nach der emotionalen Geborgenheit, die es gebraucht hätte und nicht bekam, und die Unsicherheit, die durch den Mangel an Kontrolle über die eigenen Emotionen entsteht.
Eigene Gefühle, die wir nicht unter Kontrolle haben, können überwältigend sein, besonders für ein Kind. Die Angst davor führt dazu, dass Kinder, denen ein emotional verfügbares Gegenüber fehlt, ihre Gefühle unterdrücken und sich vom eigenen Gefühlserleben entfremden.
Diese Entfremdung erzeugt den Mangel an Sinn und Zugehörigkeit oder trägt zumindest zu ihm bei. Gleichzeitig gilt es Ängste zu betäuben; auf der einen Seite vor der emotionalen Überwältigung und auf der anderen vor den Gefahren der Außenwelt, die umso bedrohlicher erscheinen, je weniger ein Mensch den Rückhalt stabiler Beziehungen hat.
Dazu kommen Schamgefühle, denn das Ausbleiben einer Antwort auf die Gefühle des Kindes vermittelt diesem die Botschaft, dass mit ihm etwas nicht stimme. Auch auf den Mangel an Kontrolle über das eigene Gefühlsleben bietet die Sucht eine Antwort, da sie ein immer verfügbares Mittel ist, die Gefühlslage auf Knopfdruck in einen vertrauten „grünen Bereich“ zu bringen.
Auf Knopfdruck heißt hier auch: unabhängig von anderen Menschen. Sich ein Gefühl der Geborgenheit verschaffen zu können, ohne auf andere Menschen angewiesen zu sein, ist begreiflicherweise reizvoll für jeden, der verlassen, verletzt oder enttäuscht wurde.
So kann die Hingabe an die Droge paradoxerweise Ausdruck eines Versuchs der Selbstbehauptung sein: „Jetzt mache ich mal das, was ich will und was mir gut tut und pfeife darauf, was die anderen wollen und denken“.
Die Forschung ist sich einig, dass die Wirkung des Nikotins auf das Dopamin- bzw. Motivationssystem die Hauptverantwortung für die Zigarettensucht trägt. Doch neben den beschriebenen Wirkungen des Dopamins und Beta-Endorphins helfen noch andere vom Nikotin freigesetzte Botenstoffe, unseren inneren Zustand zu kontrollieren und in einen angenehmen Bereich zu bringen:
- Serotonin hilft bei der Stimmungsregulierung und hat eine beruhigende und antidepressive Wirkung.
- Gamma-Aminobuttersäure (GABA) unterdrückt schwächere Reize im Gehirn. Dies ist auch die wesentliche Wirkung des Alkohols. Es vermittelt eine angenehme Ruhe, weil weniger Reize nach unserer Aufmerksamkeit verlangen und Hintergrundsignale wie Nervosität, Sorgen und unterschwellige Stressfaktoren ausgeblendet werden. Wir können uns besser konzentrieren.
- Noradrenalin, Acetylcholin und Glutamat lösen eine angenehme Erregung aus und unterstützen Denken, Lernen und Erinnerung.9
Extremfälle emotionaler Nichtverfügbarkeit sind schwere Vernachlässigung oder Missbrauch, aber sie kann auch in kleinerem Umfang dadurch entstehen, dass ein Elternteil beispielsweise zu überarbeitet ist, um Kindern seine volle Aufmerksamkeit zu widmen.
In vielen Fällen sind Eltern auch einfach mit sich selbst nicht im Reinen, was ihre Fähigkeit beeinträchtigt, ihren Kindern verlässlich Liebe und emotionale Sicherheit zu geben. Deshalb werden Pathologien wie Alkoholismus, Gewalt und Missbrauch innerhalb von Familien häufig von Generation zu Generation weitergegeben.10
Es gibt inzwischen eine Vielzahl von Studien, die sich dem Zusammenhang zwischen negativen Kindheitserfahrungen und späteren Lebensproblemen wie Sucht, Krankheit und Gewalttätigkeit widmen. Im August 2017 erschien eine gebündelte Auswertung der Daten einer ganzen Reihe solcher Studien aus vielen Ländern mit insgesamt mehr als einer Viertelmillion befragter Personen.11
Diese Auswertung fragte danach, in welchem Umfang Menschen, die vier oder mehr negative Kindheitserfahrungen erlebt haben, als Erwachsene stärker zu Sucht, anderen riskanten und schädlichen Verhaltensweisen oder Krankheiten neigen. Zu den erfassten Kindheitserfahrungen gehören unter anderem Vernachlässigung und das Aufwachsen bei alleinerziehenden Elternteilen, Alkoholmissbrauch in der Familie und Gewalt.
Was das Rauchen betrifft, zeigte sich, dass Menschen mit vier oder mehr negativen Kindheitserfahrungen fast dreimal so häufig zu Rauchern wurden wie Menschen mit weniger schwierigen Kindheiten. Noch deutlich größer war der Effekt bei harten Drogen wie Kokain und Heroin, wo sich die Wahrscheinlichkeit einer Sucht verzehnfachte. Von den Befragten mit vier oder mehr negativen Kindheitserfahrungen entwickelten fast sechsmal so viele wie in der Durchschnittsbevölkerung eine Abhängigkeit vom Alkohol.
Auch aus der Hirnforschung gibt es Hinweise darauf, dass ein hohes Stressniveau in Kindheit und Jugend die Entwicklung des Gehirns in einer Weise beeinträchtigen kann, die das Erleben von Sinn und Zugehörigkeit im oben ausgeführten Sinn erschwert: früher Stress kann die Belohnungssysteme schwächen und eine höhere Sensibilität für weiteren Stress und Ängste zurücklassen.12
Doch gerade hier gibt es auch Grund zum Optimismus, denn jede Generation hat die Chance, aus dem Zirkel zu entkommen. Würden sich Pathologien in der Familie endlos fortschreiben, hieße das, dass sie sich auch summierten. Wäre dies über Tausende von Jahren und Generationen geschehen, wäre es praktisch ausgeschlossen, dass heute noch irgendjemand halbwegs gesund ist.
So wie der Körper hat auch die Seele ihre Selbstheilungskräfte, und über die Generationen driften wir eher in Richtung Gesundheit als in Richtung Krankheit.
Aus der Sucht herauswachsen
In der Suchtforschung und ‑behandlung sind die Meinungen geteilt, ob Sucht als Krankheit, als Selbstmedikation oder als Entscheidung einzustufen sei. Der schon zitierte Neurowissenschaftler Marc Lewis wendet sich überzeugend gegen eine Auffassung der Sucht als Krankheit. Der Grund dafür ist in seinen obigen Zitaten schon angedeutet: Sucht ist auf der Ebene des Gehirns ein Ergebnis normaler Lernprozesse – nur dass es in ihrem Fall ein schädliches Verhalten ist, das gelernt wird.
Damit soll Sucht nicht verharmlost werden. Aber auch andere schädliche Verhaltensweisen, zum Beispiel kriminelle, sind gelernt und haben zerstörerische Folgen. Eine Krankheit sind sie deswegen nicht.
Doch es gibt noch einen anderen Grund, Sucht nicht als Krankheit anzusehen, der faszinierend ist und Hoffnung stiftet. Der Psychologe Gene M. Heyman gehört zum Lager derjenigen, die Sucht als Entscheidung interpretieren. Um das zu unterfüttern, verweist er auf einige unstrittige Tatsachen.
Erstens: Die meisten Süchtigen überwinden ihre Sucht früher oder später. Zweitens: Die meisten Menschen, die ihre Sucht überwinden, tun das ohne Behandlung. Drittens: Sie tun es aus konkreten, rationalen Gründen, etwa um Angehörige nicht weiter zu belasten, ihre Gesundheit zu schonen und so weiter.
Ohne Behandlung und aus bestimmten Gründen? Das klingt nicht nach einer Krankheit.
Hayman zeigt, dass verschiedene Süchte offensichtlich typische Halbwertzeiten haben:
Im Jahr 4 (nach Einsetzen der Sucht) hatte die Hälfte der Kokainsüchtigen aufgehört, in klinisch signifikantem Umfang Kokain zu konsumieren; für Marijuana war die Halbwertzeit der Abhängigkeit sechs Jahre; beim Alkohol war sie erheblich länger, nämlich 16 Jahre.13
Mir fehlen die Daten, um eine Halbwertzeit für die Zigarettensucht anzugeben. Sicher ist aber auch hier, dass immerhin die Hälfte der Raucher ihre Sucht früher oder später überwinden und hinter sich lassen.14 Die meisten von diesen wiederum (76 Prozent) schaffen es, ohne eine Behandlung oder sonstige Hilfe in Anspruch zu nehmen.15
Dies deckt sich mit der Deutung von Marc Lewis. Er sieht Sucht als Aspekt der Persönlichkeitsentwicklung, oder anders ausgedrückt, als biographische Phase.
Zunächst erscheint die Droge als Antwort auf ein brennendes Bedürfnis; als genau das, was man braucht, um mit dem Leben zurechtzukommen. Das passiert in der Regel in jungem Alter. Später wird die Sucht selbst zum Problem. Irgendwann ist man dann stark genug und/oder der Leidensdruck groß genug, um sich allmählich auf ein Leben ohne die emotionale Krücke einzustellen, die einen all die Jahre getragen hat, aber damit auch verhindert hat, dass man lernte, aus eigener Kraft aufrecht zu gehen.

Dazu gehört auch, sich den Ängsten und Verletzungen zu stellen, die ursprünglich das Bedürfnis nach der Droge erzeugt haben, von ihr aber nur betäubt werden. Indem wir uns mit ihnen auseinandersetzen, holen wir die Reifung nach, die wir bisher verpasst haben. So packen und überwinden wir die Sucht an ihrer Wurzel und verschaffen uns ein in jeder Hinsicht besseres Leben.
Unter „Verantwortung übernehmen“ finden Sie Methoden, um Frieden mit Ihrer Vergangenheit zu schließen und sich in Form sinnvoller Ziele für Ihr Leben eine überzeugende Alternative zur Sucht zu schaffen.
Der Ratgeber „Entzugserscheinungen lindern“ zeigt Ihnen, wie Sie durch geschickte Vorbereitung deutlich leichter durch den Nikotinentzug kommen.
Wenn Sie zunächst mehr über die Nikotinabhängigkeit und Entwöhnungsmethoden wissen wollen, finden Sie unter „Mit dem Rauchen aufhören“ viele Informationen in Form von Antworten auf die häufigsten Fragen zum Thema.