Ich liebe Kaffee seit vielen Jahren und habe meist drei bis vier Becher Latte Macchiato am Tag getrunken, also doppelte Espressos (oder Pseudo-Espressos aus dem Herdkännchen) mit aufgeschäumter Milch. Dem Kaffee galt einer meiner ersten Gedanken nach dem Aufstehen, er motivierte mich zum Aufstehen, seine Zubereitung war meine erste koordinierte Handlung und sein Genuss die erste Befriedigung des Tages.
Der Kaffee diente als Treibstoff, wenn ich bei der Arbeit nicht vorankam oder keine Lust hatte (Kaffeekochen ist ein guter Vorwand für eine Pause); und er schuf Momente der Ruhe, des Innehaltens, des Zeitstillstands im Alltag. Seine Wärme, sein Aroma und sein sanfter Kick vertrieben die Zumutungen des Alltags und ersetzten sie durch Genuss.
Jetzt habe ich gerade einen Koffein-Entzug hinter mir, in diesem Umfang wahrscheinlich der erste seit meiner Blinddarm-OP vor vielen Jahren. Er hat rund eine Woche gedauert. Die Entzugserscheinungen haben mich unvorbereitet getroffen und ihre Stärke hat mich überrascht. Ich hatte überhaupt nicht mit Entzugserscheinungen gerechnet.
Ähnlich überrascht bin ich von dem Gefühl der Befreiung, das ich in diesen Tagen erlebe.
Kaffeelust und Suchtimpuls
Doch der Reihe nach. Warum verschmähe ich den Kaffee jetzt, wenn ich ihn doch so liebte?
Ich habe vor bald vier Monaten mit dem Rauchen aufgehört. Im Zuge dessen habe ich mich näher mit Sucht allgemein und mit meiner eigenen beschäftigt. In den letzten Wochen hatte ich nun immer mehr das Gefühl, mich mit dem Kaffee immer noch den ganzen Tag im Zirkel des Suchtverhaltens zu befinden.
Das war der Hauptgrund für meinen Wunsch, das Kaffeetrinken zumindest vorübergehend sein zu lassen.
Ich hatte Recht. Deshalb fühle ich mich befreit.
Meine Lust auf Kaffee war nicht nur Lust auf Kaffee. Sie war ein Suchtimpuls. Ein Sehnen, dem Leben zu entkommen, es auf Standby zu schalten, eine Auszeit zu nehmen und sorgenfrei zu sein. Mehrmals täglich richtete sich dieser Impuls auf den Kaffee und fand in ihm Befriedigung. Mein Leben war immer noch von Sucht geprägt.
Nicht wegen der Substanz, die ich mir zuführte, und nicht wegen der Stimulation meines Kreislaufs oder der Veränderungen in meinem Nervensystem durch diese Substanz.
Sondern weil ich das Leben weiterhin als etwas behandelte, vor dem man fliehen muss, indem man ständig Ablenkungen und Befriedigungserlebnisse inszeniert.
Sucht liegt in Persönlichkeiten, nicht Substanzen
Es geht mir nicht darum, Kaffee oder Kaffeetrinker anzugreifen. Alles Mögliche kann zur Sucht werden, was an sich gut oder sogar wichtig ist. Sucht liegt nicht nicht in irgendwelchen Substanzen – zumal es auch Süchte ohne Substanzen wie die Spielsucht gibt –, sondern in der Rolle, die eine Substanz oder ein Verhalten im Seelenleben einer Person spielt. Ich glaube und behaupte nicht, dass Kaffee für jeden Kaffeetrinker dieselbe Rolle spielt, die er für mich spielte.
Vielmehr schreibe ich diesen Artikel deshalb, weil ich davon überzeugt bin, dass der Schlüssel zur Überwindung der Sucht darin liegt, für das eigene Leben Verantwortung zu übernehmen. Das bedeutet und verlangt eine persönliche Transformation. Der Verzicht auf Kaffee ist in meiner persönlichen Transformation ein weiterer Schritt aus dem Suchtverhalten heraus.
Ich glaube, wir haben alle unsere kleinen, zur Gewohnheit gewordenen Fluchtmechanismen. Damit verschenken wir jedes Mal Potential, stärker zu werden und erfüllter zu leben, indem wir uns unseren Gefühlen stellen. Wenn es darum geht, eine ernsthafte Sucht zu überwinden, ist es nicht nur ein Potential, sondern eine Notwendigkeit.
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Müdigkeit und Kopfschmerzen
Am ersten Tag ohne Kaffee war noch alles normal. Ich blieb länger im Bett als ursprünglich vorgesehen, war den Tag über etwas müde und hatte gelegentlich Lust auf einen Kaffee. Das alles war zu erwarten und nicht weiter auffällig.
Doch am zweiten Tag ging es los. Ich war um zehn Uhr zum Frühstück in einem Café verabredet und wollte um acht aufstehen. Als der Wecker klingelte, klebte ich an der Matratze wie Blei. Es fühlte sich an, als hätte ich nach einem anstrengenden Tag viel zu wenig geschlafen. Ich stand schließlich in letzter Minute irgendwann um halb zehn herum auf, so dass ich gerade noch unter die Dusche springen und pünktlich am Treffpunkt sein konnte.
Das Frühstück verlief okay, ich fühlte mich nur etwas lahm im Kopf und nicht allzu gut gelaunt. Das hätte noch Zufall sein und teilweise am zu langen Schlafen liegen können.
Doch als ich nach rund zwei Stunden wieder zu Hause war, überkam mich ein Bedürfnis, mich einfach aufs Bett fallen zu lassen. Es war ein Werktag und ich wollte eigentlich arbeiten (ich habe freie Zeiteinteilung), aber ich dachte, ich erlaube mir wenigstens eine halbe Stunde oder Stunde, weil ich so müde und erschöpft und das Bett so verlockend war.
Aus der halben Stunde oder Stunde wurden zwei drei, fünf, zwölf … der ganze Tag und die ganze Nacht. Ich blieb bis zum nächsten Vormittag im Bett und schlief mit kurzen Unterbrechungen. Bald nachdem ich mich hingelegt hatte, kamen Kopfschmerzen dazu, die stark genug waren, um mich immer wieder aufzuwecken. Sie blieben mir erhalten, bis ich nachts um halb drei aufstand und eine Ibuprofen nahm, um weiter schlafen zu können.
Nach dem Aufwachen am nächsten Tag war das Schlimmste vorbei. Ich fühlte mich noch angenehm dämmrig von der Tablette. Es war entspannend, keine Schmerzen mehr zu haben, und ich fühlte mich einigermaßen ausgeruht.
Keine Angst mehr vor Elefanten
Noch für eine Woche neigte ich zu Kopfschmerzen. Unterschwellig waren sie jeden Tag da und wurden durch die üblichen Ursachen stärker, etwa zu wenig Trinken, zu viel Bildschirmarbeit, zu viel Sonne oder Stress. Ich war nur anfälliger, die Schwelle der Belastungen, an der die Kopfschmerzen begannen, lag niedriger als normal. Noch zweimal in der Woche hatte ich für einige Stunden stärkere Kopfschmerzen, als ich ein gewisses Stresslevel nicht vermeiden konnte.
Trotzdem ging es mir in dieser Woche unterm Strich hervorragend. Ich fühlte mich befreit, entspannter und gesünder. Rückblickend kommt es mir vor, als hätte ich meinen Körper nur gestresst, indem ich ihm in der ersten Tageshälfte so viel Koffein zuführte und den Spiegel abends und nachts wieder absinken ließ.
Und als hätte ich mich nur gestresst, indem ich unbewusst meinen Glauben beförderte, dass mein Leben nicht auszuhalten wäre, wenn ich mir nicht drei oder vier Mal am Tag ein künstliches Befriedigungserlebnis verschaffen würde. Meinen Glauben, dass meine Gedanken und Gefühle etwas waren, von dem ich mich ablenken, vor dem ich fliehen musste.
Ich erinnerte mich an eine Szene aus dem hervorragenden „Anleitung zum Unglücklichsein“ von Paul Watzlawick, das ich vor Ewigkeiten gelesen hatte. Ein Mann wird dabei beobachtet, wie er alle zehn Minuten in die Hände klatscht.
Nach dem Grunde für dieses merkwürdige Verhalten befragt, erklärt er: „Um die Elefanten zu verscheuchen.“
„Elefanten? Aber es sind doch hier gar keine Elefanten.“
Darauf er: „Na, also! Sehen Sie?“
Watzlawicks Schlussfolgerung sollte jeder gründlich auf sich wirken lassen, der die kleineren Süchte, Sünden und Ablenkungen des Alltags für harmlos hält:
Die Moral von der Geschichte ist, dass Abwehr oder Vermeidung einer gefürchteten Situation oder eines Problems einerseits die scheinbar vernünftigste Lösung darstellt, andererseits aber das Fortbestehen des Problems garantiert.
Und dies sogar, wenn es sich um ein nur eingebildetes Problem handelt wie die Elefanten in der Geschichte.
Die gewohnheitsmäßige Flucht beenden
Wir flüchten vor Gedanken und Gefühlen ins Suchtverhalten, und ohne es zu wissen oder zu merken, trainieren wir uns dabei die Überzeugung an, dass unsere Gedanken und Gefühle etwas sind, wovor man fliehen muss.
Je mehr wir vor ihnen fliehen, desto weniger fühlen wir uns wohl in unserer Haut und desto weniger nehmen wir wirklich am Leben teil. Das ist beunruhigend und unbefriedigend, und deshalb brauchen wir das Suchtverhalten. Das ist der Teufelskreis.
In meinem Fall war es nicht nur die Entscheidung für die Kaffee-Abstinenz, die zu meinem Gefühl der Befreiung geführt hat. Im Zuge meiner Bemühungen, mit dem Rauchen aufzuhören, arbeite ich seit Monaten daran, Verantwortung zu übernehmen und mich mit dem zu konfrontieren, was in mir vorgeht, statt es zu verdrängen oder mich abzulenken.
Spektakuläre Durchbrüche und Erfolge sind im Leben nur möglich, weil man täglich daran arbeitet, obwohl an den meisten Tagen keine spektakulären Durchbrüche und Erfolge geschehen.
Es geht also nicht über Nacht. Aber es geht. Ein paar Monate genügen locker, um ein gutes Stück voranzukommen und sich merklich zum Besseren zu verändern.
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Alles ist möglich
Im Februar, kurz nachdem ich mit dem Rauchen aufgehört hatte, ging ich zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Ich hatte eine entzündete Stelle an den Stimmbändern, ein sogenanntes „Granulom“, das beim Schlucken schmerzte. Die Ärztin identifizierte das Rauchen als wahrscheinliche Ursache – und die Säure im Kaffee. Mit dem Kaffeetrinken aufzuhören eröffne die besten Heilungschancen. Wenn es nicht von selbst heile, müsse man wohl operieren.
Aber ich schaffte es nicht, mit dem Kaffeetrinken aufzuhören. Ich schob es vor mir her und erfand Ausreden, wie ich es noch vor einiger Zeit mit dem Rauchen gemacht hatte. Ich konnte es nicht lassen. Ich trank weiter meinen Kaffee.
Das Granulom verheilte trotzdem, wahrscheinlich deshalb, weil die wichtigste Ursache das Rauchen gewesen war. Ich hatte Glück. Die Schmerzen gingen weg und die Ärztin sah beim nächsten Termin nichts Auffälliges mehr.
Und jetzt, vor einer Woche, überkam mich einfach das Bedürfnis, auch aus diesem Suchtzirkel auszusteigen, und ich tat es, und obwohl ich wirkliche Schmerzen dabei hatte, bin ich glücklich und zufrieden und fühle mich hervorragend.
Ein paar Mal am Tag meldet sich in mir der Wunsch nach einem Kaffee und ich verspüre ein leises Bedauern, wenn ich dazu nein sage. Aber unterm Strich fällt das nicht ins Gewicht. Mein Empfinden ist ungefähr: 45 Prozent Erleichterung, 45 Prozent Befreiung und 10 Prozent Leiden unter dem Verlust.
Vor drei Monaten konnte ich es trotz drohender Notwendigkeit einer Operation nicht, jetzt tat ich es einfach, weil ich es wollte, fühle mich gut und bereue nichts.
So schnell und weitreichend können sich die Dinge ändern, wenn man täglich daran arbeitet, sei es auch nur für zehn Minuten.
A propos Minuten: Durch den Kaffee-Verzicht spare ich etwa eine Stunde Zeit pro Tag. 365 Stunden im Jahr, das sind gut 15 volle Tage. Knapp 23 Tage, wenn man den Schlaf abzieht, also 23 Tage wirklich nutzbare Zeit.
Was kann man in 23 Tagen alles erleben? Was kann ich alles in einem, drei, fünf Jahren erreichen, wenn ich diese Zeit sinnvoll investiere?